Ein Dorfkind mit Sonderstatus
Disclaimer:
Keine Vorwürfe, keine Schuldzuweisungen.
Das ist einfach meine Geschichte. So hab ich das Dorfleben erlebt, so hab ich es gefühlt.
Wir waren Kinder. Wir wussten nicht, was Worte und Blicke im anderen auslösen können.
Und trotzdem lief einiges schief.
Ein Dorf, das jeder kennt (und jeder kennt dich)
Knapp 1.700 Menschen.
Ein Bäcker, ein Metzger, ein Schlecker (RIP), eine Imbissbude und ein Laden, der (fast) ALLES hatte – Schrauben, Schokolade, Schulsachen.
Bus am Wochenende? Vergiss es.
Wenn du irgendwohin wolltest, brauchtest du Eltern mit Auto oder sehr gute Beine.
Und Familie? Hatte ich genug.
Alle wohnten da.
Tanten, Onkel, Cousinen, Großeltern – jeder nur ein paar Straßen entfernt.
Praktisch, wenn du schnell Hilfe brauchtest.
Weniger praktisch, wenn du Chips kaufen wolltest, ohne dass Oma am nächsten Tag fragte, ob die Paprikachips geschmeckt haben.
Und dann gab’s da diese Feste.
Schützenfest und Karneval waren heilig – und das sind sie heute noch.
Gefühlt war das ganze Dorf auf den Beinen. Paraden, Musik, Tanz, Kostüme, Bierbänke und Menschenmassen.
Für viele das absolute Highlight des Jahres.
Und egal, wie klein das Dorf war, gefeiert wurde, als gäbe es kein Morgen.
Schule und Vereine – Spoiler: kein Happy End
Die Grundschule war direkt ums Eck.
Trotzdem war ich selten da. Zu viele OPs, zu viele Termine.
Wenn ich da war, war ich „die mit den Narben“.
Man kannte mich.
Aber nicht wirklich mich.
Eher meine Story.
Und ja, ich hab’s versucht.
Ich wollte dazugehören.
Ich war in Sportvereinen, hab bei Proben mitgemacht, hab mich wirklich bemüht.
Aber egal, wo ich auftauchte – es blieb immer dieses unsichtbare Schild über meinem Kopf: „Fremd“.
Die Leute waren nett, so oberflächlich-nett.
Aber nie dieses „Hey cool, dass du da bist!“
Mehr so ein: „Äh… hallo.“ voll auf Distanz.
Ich hab nie verstanden, warum. Und irgendwann hat’s einfach wehgetan.
Dorf-Logik: Reden > Fragen
Gerüchte sind quasi Dorf-News.
Und wenn man’s „gehört“ hat, muss man ja nicht noch mal nachfragen, oder?
Spoiler: Doch. Sollte man. Hat aber kaum jemand gemacht.
Am Ende weiß ich nicht, ob es an meinem Aussehen lag, am Standing meiner Familie (es gab ja durchaus beliebte und unbeliebte Familien) oder ob irgendjemand mal etwas erzählt hatte, das alle gegen mich aufbrachte.
Es spielt auch keine wirkliche Rolle.
Lichtblicke und Freundschaften
Es war nicht alles mies.
Ich hatte ein oder zwei Freundinnen, die selbst ein bisschen anders waren.
Mit ihnen war’s gut. Richtig gut.
Wir haben uns eigene Welten gebaut – Baumhäuser, Felder, geheime Treffpunkte.
Wir waren Kids ohne Smartphones, aber mit jeder Menge Fantasie.
Und dann war da der Schlittenberg.
An Schneetagen haben wir dort unser halbes Leben verbracht.
Hoch, runter, hoch, runter – bis wir aussahen wie Tomaten mit Jacke.
Heute stehen da Häuser.
Ein bisschen so, als hätte man unsere Kindheit einfach plattgemacht und bebaut.
Rückblick mit Abstand
Das Dorf war für mich kein gemütlicher Kokon.
Eher eine Vitrine, in der alles, was dich anders macht, besonders groß ausgestellt wird.
Aber vielleicht war das auch meine größte Schule.
Ich hab gelernt, mich zu behaupten, auch wenn keiner klatscht.
Ich hab gelernt, dass echte Freundschaft unbezahlbar ist.
Und dass Familie ein Segen sein kann – selbst wenn das Netz manchmal so eng ist, dass du kaum Luft kriegst.
2012 haben wir das Dorf verlassen.
Der Umzug brachte keinen Neuanfang, sondern machte vieles noch einsamer.
Ich kannte niemanden, die Familie wohnte nicht mehr in der Nähe, und ich fühlte mich fremder denn je.
Spoiler: 2012 war nicht mein letzter Umzug – der nächste führt mich mitten nach Berlin.
Aber das Dorf bleibt in mir:
Der Duft von frischen Brötchen.
Das Glockenläuten.
Schützenfest und Karneval, die jedes Jahr alles auf den Kopf stellten.
Die Stimmen meiner Familie, die alle nur ein paar Straßen weiter lebten.
Und ja, auch das Getuschel, das hinter meinem Rücken immer lauter war als ins Gesicht.
Ich bin ein Dorfkind.
Nicht, weil ich perfekt hineingepasst hätte.
Sondern, weil ich dort gelernt habe, wer ich bin – und dass Stärke manchmal genau dort wächst, wo man sich am meisten fremd fühlt.
Danke, dass du das gelesen hast.
Vielleicht hast du verstanden, dass Dorfleben nicht immer Idylle bedeutet.
Vielleicht fühlst du dich ein bisschen weniger allein.
Oder du denkst einfach: Krass, dass sie das so ehrlich teilt.
Alles okay. Ich wollte nur zeigen, dass Echtheit mehr bewegt als Fassade.
PS: Der nächste Beitrag wird wieder leichter – aber hey, es ist mein Blog und der darf alles. 😉