Trigger-Warnung:
In diesem Beitrag geht es um Suizid und Trauer nach dem Verlust eines Angehörigen. Falls dich das belastet oder du selbst Hilfe brauchst: In Deutschland erreichst du die
TelefonSeelsorge rund um die Uhr, anonym und kostenfrei unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222. Auch Chat und E-Mail-Beratung sind möglich: telefonseelsorge.de. Im Notfall wähle 112.
Warum ich schreibe
Ich habe drei Menschen durch Suizid verloren, und jeder Verlust hat seine Spuren hinterlassen. Heute möchte ich über meinen Onkel schreiben. Es ist schwer, Worte dafür zu finden, aber ich weiß, dass Schweigen noch schwerer ist. Ich schreibe, um zu erinnern, um ihn lebendig zu halten, und um deutlich zu machen, wie wichtig es ist, über Trauer und Verzweiflung zu sprechen.
Wer er war
Mein Onkel war nicht einfach nur „mein Onkel“. Er war ein Mensch, bei dem man sofort das Gefühl hatte, willkommen zu sein. Er hatte Humor, der oft unerwartet kam und mich bis heute begleitet. Einmal, ich war noch klein, erzählte ich ihm, dass ich später unbedingt nach „L.A.“ ziehen wollte. Er grinste und meinte: „Ach, nach Lennestadt-Altenhundem?“ Ich habe den Witz damals nicht verstanden, aber wir haben gelacht, und dieses Lachen sehe ich noch heute so klar vor mir. Ich erinnere mich an seine Stimme, an sein Gesicht, an genau diesen Moment – bis ins kleinste Detail. Diese Erinnerung trägt mich, und sie bedeutet mir die Welt.
Das schwarze Loch
Ich war zwölf Jahre alt, als ich von seinem Tod erfahren habe. Ich erinnere mich an die Suchaktion am Tag zuvor, aber danach ist alles verschwommen. Es fühlt sich an wie ein schwarzes Loch, keine klaren Bilder, nur Leere. In meiner Familie herrschte Schock. Wir waren traurig, verzweifelt und verwirrt. Jeder zog sich zurück, und über das Geschehene wurde kaum gesprochen. Wir haben alle gelitten, aber nicht gemeinsam.
Gefühle im Wandel
Am Anfang war ich wütend. Ich dachte: Warum? Einfach aufgeben, so geht das nicht. Heute weiß ich, dass es nicht so einfach ist. Suizid ist keine leichte Entscheidung. Er ist Ausdruck einer unvorstellbaren Verzweiflung, wenn jemand bewusst Medikamente nimmt oder sich das Leben nimmt – in dem Wissen, dass es kein Zurück gibt. Dann kam Traurigkeit, Leere, Vermissen. Mit der Zeit mischte sich auch ein Stück Verständnis, aber abgeschlossen habe ich nicht. Manchmal denke ich noch, dass er irgendwo da draußen sein könnte, als wäre nichts passiert. Die Trauer ist geblieben, sie begleitet mich, und ich lerne, mit ihr zu leben.
Schuld und Fragen
Schuldgefühle habe ich keine, aber lange habe ich mir die Frage gestellt: „Was wäre, wenn wir früher bemerkt hätten, wie schlecht es ihm geht?“ Diese Frage habe ich irgendwann abgelegt, weil sie nichts zurückbringt. Die große offene Frage bleibt: Warum hat er nichts gesagt? Hätten wir helfen können? Auf diese Fragen gibt es keine Antworten, nur ein immer wiederkehrendes Nachdenken.
Rituale und Erinnerung
Zu Hause habe ich ein kleines Sideboard mit Bildern von ihm und anderen verstorbenen Menschen. An Todestagen und Geburtstagen zünde ich Kerzen an. Ich spreche über ihn, erzähle Geschichten und halte die Erinnerung lebendig. Das Schreiben hier ist ein Teil davon. Es ist mein Weg, Awareness zu schaffen, hinzuschauen und zu handeln, wo es nötig ist.
Was ich daraus mitnehme
Der Verlust meines Onkels hat meinen Blick auf das Leben verändert. Ich weiß heute, dass auch wenn es mal schlimm ist, es wieder besser werden kann. Ich achte auf Menschen, versuche, hinzusehen, aufmerksam zu sein. Vielleicht manchmal zu viel, vielleicht manchmal zu früh, aber lieber so als gar nicht. Reden ist wichtig. Zuhören ist wichtig. Schweigen hilft nicht.
Umgang mit Trauernden
Wenn jemand einen geliebten Menschen durch Suizid verloren hat, können Worte heilen oder verletzen. Es kommt auf den Respekt und die Aufmerksamkeit an.
Hilfreiche Worte und Gesten:
- „Es tut mir leid.“
- „Ich denke an dich.“
- „Magst du mir eine Erinnerung erzählen?“
- „Wollen wir zusammen rausgehen?“ oder „Soll ich dir helfen?“
Unangemessen und verletzend:
- „Du musst jetzt stark sein.“
- „Zeit heilt alle Wunden.“
- „Das Leben geht weiter.“
- „Warum habt ihr nichts gemerkt?“
- „Vielleicht war es besser so.“
- Abwertende Kommentare wie: „Der war ja voll schwach.“
Solche Worte sind niemals hilfreich. Schweigen, zuhören und da sein ist oft viel tröstlicher.
An meinen Onkel
Ich bin nicht wütend. Ich bin nicht enttäuscht. Ich bin traurig. Ich vermisse dich. Ich wünschte, du hättest uns gezeigt, wie sehr du gelitten hast. Ich hätte dir so gern geholfen. Es tut weh, dass du gegangen bist. Aber dein Lachen, deine kleinen Scherze, deine Nähe – all das ist bei mir, in mir, für immer. Ich habe dich lieb.
Trauer bleibt. Erinnerung bleibt. Aber auch Mitgefühl, Aufmerksamkeit und die Bereitschaft zuzuhören können Trost spenden, Verbindungen stärken und manchmal sogar Leben retten. Für mich bedeutet das, meinen Onkel in Gedanken lebendig zu halten und gleichzeitig auf andere zu achten, die vielleicht gerade still leiden.
Redet. Fragt nach. Seid da. Es kann den Unterschied machen – manchmal sogar Leben retten
Präventiver Hinweis / Awareness
Manchmal zeigen Menschen, die sich sehr schlecht fühlen, versteckte Signale: Rückzug, plötzliche Veränderung im Verhalten, häufige Aussagen wie „Es ist alles egal“ oder „Ich will nicht mehr“. Auch kleine Hinweise sollten ernst genommen werden. Zuhören, ohne zu bewerten, aufmerksam bleiben und professionelle Hilfe empfehlen kann Leben retten.
Hilfsangebote
Wenn du selbst in einer Krise bist oder dir das Lesen dieses Textes schwerfällt:
- TelefonSeelsorge (Deutschland): 0800 111 0 111 / 0800 111 0 222 – rund um die Uhr, anonym und kostenfrei, auch per Chat.
- Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention: www.dgs.de
- In akuten Notfällen: Notruf 112.
Du bist nicht allein.